Kapitalisierungszinssatz und Unternehmensbewertung

Unternehmensbewertungen können aus zwei verschiedenen Richtungen angegangen werden. Man berechnet entweder den Ertragswert oder den Substanzwert der Firma. Beim Substanzwert blickt man auf die Bilanz des Unternehmens, schätzt den tatsächlichen Wert der einzelnen Aktiven und Passiven, addiert bei Bedarf einen Goodwill für nicht-bilanzierte, immaterielle Werte und erhält ein bereinigtes Eigenkapital bzw. den Substanzwert. Beim Ertragswert fokussiert man sich auf die Erfolgsrechnung, wählt eine Renditekennzahl wie den Reingewinn oder den freien Mittelfluss (Free Cash Flow) und kapitalisiert diese mit einem Zinssatz.

Jeder Inhaber einer Aktiengesellschaft oder Gesellschaft mit beschränkter Haftung kennt das Konzept der Kapitalisierung. Steuerämter verwenden diese Methode zur «Bewertung von Wertpapieren ohne Kurswert». Oft wird der vom Steueramt gewählte Kapitalisierungszinssatz unkritisch übernommen und u.a. als Argument in Preisverhandlungen beim Firmenkauf verwendet, wodurch er zum Zankapfel der Parteien wird. Da das Konzept des Kapitalisierungszinssatzes vielmals nicht in der Tiefe verstanden wird, ist eine sachliche Diskussion darüber nicht möglich und die Verhandlungen enden in einer Sackgasse.

 

Was sagt der Kapitalisierungszinssatz aus?

Der Kapitalisierungszinssatz entspricht derjenigen Rendite auf einem Vermögenswert, welche die dem Vermögenswert innewohnenden Ertragsrisiken angemessen entschädigt. Er verdichtet das Gesamtrisiko des Unternehmens in einer Zahl. Das Konzept der risikogerechten Entschädigung eines finanziellen Engagements ist jedem bekannt, der schon einmal einen Bankkredit aufgenommen hat. Verfügt der Kreditnehmer über einen sicheren, hohen Ertragsstrom (Einkommen) sowie über materielle Sicherheiten (unbelastete Vermögenswerte wie Immobilien, Aktien, etc.), dann wird ihm die Bank den Kredit zu einem tieferen Zinssatz gewähren. Dasselbe Prinzip gilt bei der Ertragswertberechnung eines Unternehmens. Je höher und planbarer die Überschüsse bzw. je grösser die Substanz (Eigenkapital), umso tiefer liegt das Gesamtrisiko bzw. der Kapitalisierungszinssatz und umso höher ist der Ertragswert. Auf den ersten Blick scheint das Konzept simpel. Wieso scheiden sich an der Schätzung dieser Zahl dann so oft die Geister?

Das Eigenkapital eines Unternehmens kann weitgehend objektiv berechnet werden (auch wenn man sich bei einzelnen Positionen, z.B. bei der Bewertung des Warenlagers oder der angefangenen Arbeiten über die anzuwendende Bewertungsmethode aus guten Gründen uneinig sein kann). Dasselbe gilt für die Berechnung des Ertragsstroms bzw. der relevanten Renditekennzahl. Schwierigkeiten in der obigen Formel bereitet das Wort «planbarer». Die Planbarkeit des Ertragsstroms hängt von zahlreichen Einzelrisiken ab. Diese Risiken müssen bei jedem Unternehmen individuell angeschaut und quantifiziert werden. Dies ist mehr als Kunst als exakte Wissenschaft und führt zu Meinungsverschiedenheiten.

 

Welche Einzelrisiken bildet der Kapitalisierungszinssatz ab?

In der Fachliteratur und bei Kreisschreiben von Steuerbehörden wird der Kapitalisierungszinssatz in der Regel als Summe von zwei Komponenten definiert:

 

Kapitalisierungszinssatz = Zinssatz für risikolose Anlagen + Risikoprämie

 

Diese Formel drückt das Motiv jedes Investors aus, mit seiner Investition eine Überrendite erzielen zu wollen. «Überrendite» bezeichnet die Differenz zwischen der Rendite der Investition abzüglich der Rendite einer risikolosen Anlage. Die risikolose Anlage wird meist mit einer 10-jährigen Obligation eines Staates mit erstklassigem Risikoprofil (z.B. 10-jähriger Eidgenosse) gleichgesetzt.  Die Risikoprämie ist die Summe von Renditezuschlägen, welche die Einzelrisiken des Unternehmens abgelten:

 

Risikoprämie = Marktrisikoprämie + Zuschlag Illiquidität + Zuschlag Unternehmensgrösse + Zuschlag spezifische Unternehmensrisiken

 

Marktrisikoprämie: Überrendite eines diversifizierten Aktienportfolios multipliziert mit einem branchenspezifischen Betafaktor.

Zuschlag Illiquidität der Anteile: Nicht börsenkotierte Anteile können nicht so schnell liquide gemacht werden wie börsenkotierte Anteile und weisen höhere Transaktionskosten auf. Dieser Nachteil muss durch eine höhere Rendite kompensiert werden.

Zuschlag Unternehmensgrösse: Grössere Unternehmen haben in der Tendenz mehr Marktmacht, günstigere Finanzierungsmöglichkeiten, breiter verteiltes und formalisiertes Know-How und geringere Abhängigkeiten von Drittparteien als kleine Unternehmen. Aus diesem Grund werden kleine Unternehmen als risikoreicher betrachtet, was durch eine höhere Rendite entschädigt werden muss.

Zuschlag spezifische Unternehmensrisiken: Jedes Unternehmen weist ein individuelles Risikoprofil auf. Dieses leitet sich aus den konkreten Marktgegebenheiten (Konkurrenzsituation, strategische Positionierung, Marktzutrittsbarrieren, Marktgrösse, Marktdynamik, technologischer Wandel, etc.), der Kundenstruktur (Zusammensetzung, Umsatzverteilung, einmalige vs. wiederkehrende Umsätze, Abhängigkeiten, etc.), der Lieferantenstruktur (Ersetzbarkeit, Abhängigkeiten, Exklusivitäten, etc.), der Personalstruktur (Know-How-Verteilung, Ersetzbarkeit, Fluktuation, etc.) und anderen relevanten Gegebenheiten (z.B. regulatorische Risiken) ab. Je ungünstiger das Risikoprofil ist, umso höher fällt der Zuschlag aus.

 

Wie berechnet man den korrekten Kapitalisierungszinssatz?

Nach diesen theoretischen Erörterungen gilt es den Kapitalisierungszinssatz für ein Unternehmen konkret zu berechnen. Wie geht man dabei vor?

Den Zinssatz einer risikofreien Zinsanlage kann man mit einer einfachen Internetrecherche herausfinden. Die grossen vier Wirtschaftsprüfungsunternehmen (KPMG, Ernst & Young, Deloitte und PwC) publizieren regelmässig Kapitalkostenstudien, aus welchen der aktuelle risikofreie Zinssatz des relevanten Markts entnommen werden kann. Gemäss Kapitalkostenstudie 2020 der KPMG betrug 2019/2020 der durchschnittliche in der Schweiz angewandte risikofreie Zinssatz 1.2%.

Die Marktrisikoprämie kann auf dieselbe Weise herausgefunden werden. Gemäss KPMG Kapitalkostenstudie betrug die durchschnittliche Marktrisikoprämie 2019/2020 in der Schweiz 5.6%. Um der Volatilität der einzelnen Branche Rechnung zu tragen, wird die Marktrisikoprämie mit einem branchenspezifischen Betafaktor multipliziert. Defensive Branchen wie z.B. die Pharmaindustrie weisen einen Betafaktor <1 aus, weil sie unterdurchschnittlich auf konjunkturelle Ausschläge reagieren. Konjunktursensitive Branchen wie die Bauindustrie weisen einen Betafaktor >1 aus. Je höher der Betafaktor ist, umso höher fällt die Marktrisikoprämie aus.

Die Illiquidität der Anteile muss differenziert angeschaut werden, da es auch unter nicht börsenkotierten Anteilen verschiedene Grade von Illiquidität gibt. Für inhabergeführte Klein- und Kleinstunternehmen wird meist ein Zuschlag von 1 bis 3 Prozent angewandt.

Bei dem Risikozuschlag für die Unternehmensgrösse ist eine Einzelfallbetrachtung angezeigt. Die zugrundeliegende Annahme ist, dass kleine Unternehmen per definitionem eine ungünstigere Risikostruktur aufweisen. Auch wenn diese Annahme bei der überwiegenden Mehrheit der Fälle zutrifft, kann sie im Einzelfall falsch sein. Öffentlich zugängliche Marktdaten zeigen, dass die Bandbreite der angewandten Risikozuschläge hoch ist. Bei inhabergeführten Klein- und Kleinstunternehmen liegt der Wert meistens in einer Bandbreite von 1 bis 5 Prozent.

Bei dem Risikozuschlag für spezifische Unternehmensrisiken liegt es in der Natur der Sache, dass der Einzelfall betrachtet werden muss. Es ist darauf zu achten, dass in anderen Zuschlägen enthaltene Risiken nicht nochmals mitgerechnet werden. In der Praxis liegt der individuelle Risikozuschlag meist zwischen 1 bis 10 Prozent, kann aber bei besonders risikoreichen Ausgangslagen (erhebliche Klumpenrisiken, unabsehbare Marktentwicklungen, etc.) auch höher zu liegen kommen. Der unternehmensspezifische Risikozuschlag lässt sich am besten durch einen Vergleich mit Transaktionsdaten von ähnlichen Drittunternehmen schätzen.

Sobald die einzelnen Zuschläge bestimmt sind, werden sie addiert, um den Kapitalisierungszinssatz des Unternehmens zu erhalten.

 

Fazit

Die Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes eines Unternehmens ist eine aufwendige Angelegenheit, welche eine korrekte Berechnung der Renditekennzahl (gerade bei inhabergeführten Unternehmen müssen Kennzahlen wie der ausgewiesene Reingewinn meist bereinigt werden) sowie eine umfassende Würdigung aller relevanten Risiken eines Unternehmens voraussetzt. Es handelt sich um keine exakte Wissenschaft und es müssen oft vereinfachende Annahmen getroffen bzw. mit Bandbreiten gearbeitet werden. Eine unkritische Übernahme von fixen Werten ohne Berücksichtigung des Einzelfalls führt zu falschen Ergebnissen und unproduktiven Verhandlungsgesprächen.